Der Wahrheitssucher hartes Los Empfehlung

Am Krankenlager Eitans (Martin Bruchmann) blättert die Fassade von der Wahrheit ab: Leah (Evgenia Dodina), Norah (Silke Bodenbender), David (Itay Tiran) und die unerschrockene Wahida (Amina Merai) Am Krankenlager Eitans (Martin Bruchmann) blättert die Fassade von der Wahrheit ab: Leah (Evgenia Dodina), Norah (Silke Bodenbender), David (Itay Tiran) und die unerschrockene Wahida (Amina Merai) Fotos: Matthias Horn

Ist die Erde vielleicht doch eine Scheibe? Von der man hinabstürzen kann ins Bodenlose? Über den Rand getrieben von der Zentrifugalkraft?

     Unerbittlich beschreibt die Drehbühne im Stuttgarter Schauspielhaus jedenfalls ihre Kreisbahn. Alles dreht sich um alle.

    Wajdi Mouwads Familiendrama „Vögel“ lässt keinen ungeschoren davon kommen. Auch nicht das Publikum. Das bleibt im Wortsinne zwar unbewegt, zeigt sich indes durch die von einem mit grandioser Spielfreude agierenden Ensemble geprägte punktgenaue Inszenierung von Intendant Burkhard C. Kosminski tief berührt. Es dankt für diese deutschsprachige Erstaufführung mit minutenlangen rhythmischen „standing ovations“.

     Sie gelten auch Martin Bruchmann als dem jungen Wahrheitssucher Eitan in Mouwads vielschichtigem Schauspiel. Als Jude der sich gegen den erbitterten Widerstand vor allem seines Vaters in eine muslimische Araberin verliebt, muss er die eigene innere Zerrissenheit überwinden, um seinen Frieden zu finden. Damit wird er zur Verkörperung des Konflikts zwischen den Israelis und den Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland.

    Seine Identitätssuche legt ihm wie gesagt als Prüfstein noch die Liebe zu einer jungen Frau in den Weg, die der Biogenetiker in einer Universitätsbibliothek in New York kennenlernt. Als Araberin ist sie vor allem für seinen Vater David nicht akzeptabel. Dessen Überreaktion in einer existenziellen Auseinandersetzung mit ihm, die selbst die blonde deutsche Mutter und Psychotherapeutin nicht verhindern kann, weckt jedoch in Eitan den Verdacht, dass in seiner Familie einige Leichen im Keller liegen. Dieses Gefühl kann ihm auch der Großvater nicht nehmen, der den Holocaust überlebt hat.

     Und so macht sich Eitan zusammen mit der wunderschönen Wahida auf nach Israel, mitten hinein in den Nahostkonflikt. Und in den Konflikt mit seiner Großmutter. Statt ihm Rede und Antwort auf die drängende Frage nach seiner Herkunft zu stellen, geht sie ihm zunächst aus dem Wege. Die Erinnerung an die Vergangenheit stört den Seelenfrieden gewaltig – einen Frieden, der nichts anderes ist, als die Leere radikaler Verdrängung. Weil Eitan die widerspenstige Oma jedoch nicht von der Angel seiner Fragen lässt, füllt sich die Leere. Und mit jeder Antwort nehmen in rasanten Vor- und Rückblenden die Risse in der familiären Fassade zu.

     Als Eitan bei einer Bombenexplosion schwer verletzt wird, fliegen Eltern und Opa zu ihm. Und der in der Klinik im Koma liegende sprachlose Sohn löst die Zungen. Aus der zuvor herrschenden babylonischen Sprachverwirrung der deutsch, arabisch, hebräisch und englisch redenden Menschen erwächst die Wahrheit. Die wiederum nur mit Worten, mit den Mitteln der Sprache offengelegt werden kann. 

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Problematische Vater-Sohn-Beziehung - David (Itan Tiray) fühlt sich nach der Offenbarung seines Vaters Etgar (Dov Glickman) nackt und bloß.

 

     Mit vollen Händen streut der Autor Salz in die Wunden, die sich sein Personal mit der Waffe des Wortes zufügt. Und Burkhard C. Kosminskis wortgetreue Inszenierung leuchtet mit der Fackel des brennenden Schmerzes ganz tief  hinab in die Abgründe von Hass, rassistischer Arroganz, Heuchelei und Selbstverleugnung. Die Sprache wird zum Synonym für Identität. Doch was tun, wenn sich in ihrer Vielfalt der persönliche Konflikt manifestiert, die Wahl zwischen Pest und Cholera? „Was mich rettet, tötet mich, was mich glücklich macht, bringt mich um“, verzweifelt Eitan. Sein Vater David hat die Selbsterkenntnis mit einem Herzschlag bezahlt – und Wahida hat ihre arabische Identität entdeckt. Um der Solidarität mit ihrem Volk willen, gibt sie die Liebe auf. Der Vogel fliegt über die Mauer.

     Die so zerbrechlich wirkende Amina Merai füllt die Gestalt dieser Wahida zunehmend mit einer unwiderstehlichen Kraft und abschließenden Konsequenz. Neben ihr zeichnet Martin Bruchmann mit existenzieller Intensität das Profil des von Zweifeln gepeinigten Eitan. Itay Tiran spielt den Vater mit allen Facetten eines Mannes, dessen rigide Selbstgewissheit unter den Schicksalsschlägen zerbröselt. Silke Bodenbender bringt als Mutter Norah scheinbar virtuos versiertes Familienmanagement mit routinierter beruflicher Freundlichkeit unter einen Hut – bis  ihn ihr die unerwarteten Stürme des Lebens vom Kopf wehen.

    Dov Glickman konturiert den Großvater Etgar als einen weisen Nathan mit schweijkschen Zügen; Evgenia Dodina huscht schwarzhumorig deftige Kommentare und coole Sprüche absondernd als abgeklärte Kassandra quasi mit der Büchse der Pandorra über die mit einigen auf- und niederfahrenden weißen Papierbahnen von Florian Etti dezent doch wirksam bestückte Drehbühne. Maya Gorkin gibt eine ambivalente Soldatin mit dem schönen Namen Eden. Für ihr Opfer Wahida ist sie alles andere als ein Garten; ihn kann man höchstens in den von Ali Jabor zur Oud intonierten Liedern des nordafrikanischen Reisenden und Diplomaten al-Hasan al-Wazzan erahnen.

    Sichtlich gefangen genommen vom Bühnengeschehen, dessen finale Auflösung wir nicht verraten wollen, war auch das Publikum. Seine Anspannung hat es mit frenetischem Beifall abgebaut, unter den sich viele Bravorufe mischten.

    Info: Nächste Aufführungen am 6./7. und 20. Dezember; Karten unter 0711 2020 90 oder per Mail an tickets@staatstheater-stuttgart.de

 

Wolfgang Nußbaumer

                

     

    

     

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