Einsame Klasse, diese Masse Empfehlung
- geschrieben von -uss
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„verständliches“ und „unverständliches“ steht auf den beiden Türen, die links und rechts auf die Bühne im „Nord“ hinaufführen.
Das passt gut zu Bertolt Brechts monströsem Textkonglomerat „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“, das Thomas Schmauser in der Bühnenfassung von Brechtjünger Heiner Müller am Schauspiel Stuttgart inszeniert hat.
Lehrstück oder episches Theater, oder eher und/oder? So oder so. Für Heiner Müller ist das auf über 400 Seiten verteilte Fragment ein Jahrhunderttext. Seherisch in seiner Komplexität. Inhaltlich und formal. Die Geschichte, die Müller aus den Notizen herausgefiltert hat, ist jene des Soldaten Johann Fatzer, der zusammen mit drei Kameraden dem sinnlosen Krieg den Rücken kehrt und bei der Frau des einen versteckt, auf die Revolution warten. Doch der Aufstand der Massen bleibt aus; stattdessen bekommen sich die Deserteure frustriert in ihrer Einsamkeit in die Haare. Zumal der Fatzer eigene Wege geht und sich nicht ins Kollektiv einordnet. Sein Versuch, in einer Metzgerei Fleisch zu beschaffen, endet im Desaster. Die Fleischer schlagen ihn nieder und die Kameraden lassen ihn im Regen stehen. Er wird mit seiner Individualität zur Gefahr für die anderen. Sie fürchten entdeckt zu werden und beschließen seinen Tod. Die Masse, die arbeitende Klasse ist wichtiger als der Einzelne.
So weit die Fabel. Am Deutschen Theater Berlin haben sie den „Fatzer“ mit fast schon nötigender Publikumsbeteiligung auf die Bühne gebracht. In neun opulenten Szenen, deren Abfolge die Theatergäste per Losentscheid festgelegt haben. Nur die Neunte war gesetzt. Das Ende muss sein, alles andere ist beliebig. Mit dem Ergebnis, dass der „Spielleiter“ im Durcheinander mitunter den Überblick verlor und das ganze Gezeter und Mordio sich lautstark zog. Das „Unverständliche“ überwog deutlich – in jeder Beziehung.
Schmauser nahm sich zwar auch die Freiheit, das Fragment mit selbst gewählten Zutaten aufzufüllen Einigen Gedichten des amerikanischen Lyrikers Robert Lax, etwas aus Ginsbergs „America“-Poem und einer Erklärung der „Students for a Democratic Society“. Vorgetragen in einer Art transparenter Plastikisolierstation. Nach getaner Rezitiertat reißt eine Art Spielleiter (wie am dt) die Folie runter. Fortan knistert sie vor der Bühne vor sich hin, bedeckt Mikrofone und Menschen. Nun ja. Wenn’s der Wahrheitsfindung hilft.
Dann aber geht’s los mit dem Lehrstück. Die Quintessenz des Alle gegen einen, des Einen für Alle, des Kollektivs gegen das Individuum. Seid umschlungen Millionen – oder verschlungen. Seine eruptive Choreografie aus Wort und Bewegung hat Thomas Schmauser zur wahnsinnig guten Live-Musik von Ivica Vukelic Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst anvertraut. Mit Herzblut und Leidenschaft, die sich in unbändiger Spielfreude äußert, sind sie bei der Sache. Als Chor und Individuen. In der Exposition des Möglichen ebenso wie im erzählenden Nachvollzug, als die mit Videotexten und wuchtigen Songs pointierte Inszenierung richtig Fahrt aufnimmt.
Sie agieren mit und gegen diesen Egoisten Fatzer; in Gestalt der doppelt so alten Rahel Ohm, die ihn als eine zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her flippende Anarchoschlampe zeichnet, ein Kontrast, wie er nicht größer sein könnte. Dieses Anderssein, die Aus- und Abgrenzung wird intensiv körperlich erfahrbar. Andreas Leupold, der vor der Bühne als Stichwortgeber und ordnende Hand hin und her turnt, erinnert in seinem schnieken Gigologewand an einen Zirkusdirektor, dem die Chose letztlich entgleitet. Wenn die Masse den Tod einfordert, ist die Poesie am Ende. Was bleibt? Nicht mal der alte Drehstuhl in der Bühnenmitte. Doch. Eine Menge Bilder im Kopf, die sortiert sein wollen.
Wolfgang Nußbaumer
Info: Karten tel. 0711 – 20 20 90; Mo – Fr 10 – 20 Uhr, Sa 10 – 18 Uhr, online bei www.schauspiel-stuttgart.de