Kleiner Flugverkehr Empfehlung
- geschrieben von -uss
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„Ein kleiner Flugverkehr zwischen den Dörfern über den Apfelbäumen“, so hat der Intendant des Deutschen Theaters Berlin, Ulrich Khuon, bei der Jubiläumsfeier des Theaters der Stadt Aalen den Traum vom Fliegen seines schwäbischen Landsmannes Gustav Mesmer beschrieben. Eine treffende Metapher für die Arbeit der Theatermacher.
Denn sind sie nicht ebenfalls Visionäre, Utopisten, von unbändigem Freiheitsdrang beseelte Forscher wie der kauzige „Ikarus vom Lautertal“? Dessen Lebenslauf liest sich wie ein Theatermanuskript. Als Landarbeiter landet er bei den Benediktinern, verlässt das Kloster kurz vor dem Gelübde, macht eine Schreinerlehre, fällt 1929 durch einen gotteslästerlichen Zwischenruf bei einer Konfirmationsfeier auf und landet für 35 Jahre in der Klapsmühle – wegen angeblicher Schizophrenie. 1964, in Worten Neunzehnhundertvierundsechzig, wird er nach diversen Ausbruchsversuchen entlassen. Fortan kann sich Mesmer ungehindert dem Bau seiner Flugfahrräder widmen, mit denen sich der freiheitsliebende Tüftler todesmutig die Hänge hinunterstürzt.
Nun muss das Theater nicht todesmutig ans Werk gehen. Es genügt schon, „gefährliche Begegnungen“ zu riskieren. Damit spielt Khuon auf den Titel der bevorstehenden Uraufführung am Aalener Theater an. „Ungefährliche“ brächten einen schließlich nicht weiter, bedeuteten Stillstand. Theater ist Risiko – und setzt die Bereitschaft voraus, „sich selbst gegen gesellschaftliche Deformation aufs Spiel zu setzen“. Dass dabei Überforderung und Verausgabung in Kauf genommen werden, ist für den gebürtigen Stuttgarter selbstverständlich. Unter einer Voraussetzung: dass diese Selbstentäußerung durch Anerkennung belohnt wird.
Da blitzt der studierte Theologe in Khuon auf, dem man seine so harsch klingenden Erwartungen an das Bühnenvolk gerade deshalb abnimmt, weil er so ein sympathischer, bescheidener, mit Selbstkritik gesegneter Mensch ist, den man gerne als Nachbarn hätte – oder als Intendanten. Seine Vision vom Theater, das sich in der Mitte der Gesellschaft behauptet, ist eine Bühne, die als soziales Modell beispielhaft ist. Das allen von der Reinemachefrau bis zur Theaterleitung Teilhabe ermöglicht. Als Voraussetzung nennt Khuon an erster Stelle Transparenz. Gegenseitiger Respekt gehört ebenso dazu. Wie Leidenschaft und die Fähigkeit zur Mitleidenschaft. Das ist gewiss nicht wenig. Aber mit weniger kann man nicht den Finger in Wunden legen und die eigene Erinnerung für die Zukunft fruchtbar machen. Auch wenn der ganze psychische und physische Aufwand vielleicht nur für einen kleinen Hopser wie bei Gustav Mesmer reicht. Entscheidend ist, dass man seine Träume lebt, Bauchlandung inbegriffen.
Als feiner, weiser Mann hat Ulrich Khuon ein Fläschchen Balsam dabei, das seinem schmerzhaften Erwartungshorizont die Schärfe nimmt. „In Aalen hat Innovation Tradition“, lobt er. Und nennt das 25-jährige Theaterjubiläum als bestes Beispiel. Mehr noch. Er bescheinigt der Stadt Aalen und ihrem Theater eine anhaltende Sehnsucht nach Zukunft. Sie manifestiert sich für ihn unter anderem in dem Projekt Kulturbahnhof und aktuell im „Boulevard Ulmer Straße“, den die Theatermacher in der Jubiläumsspielzeit zusammen mit den so unterschiedlichen Anliegern laut ihrem Programmflyer „zur Flaniermeile für Erlebnisse und Entdeckungen!“ machen möchten.
Nach der These von Ministerialrat Christoph Peichl – er vertrat die durch eine Dienstreise nach Kanada verhinderte Staatssekretärin Petra Olschowski – „eine Stadt ohne Theater ist keine Stadt“ muss Aalen ja eine blühende Kulturlandschaft sein. Investitionen in Kultur lohnen sich, wusste der Beamte aus Stuttgart. Solche Kommunen prosperierten auch wirtschaftlich. Das Land weiß, was es solcher Eigeninitiative schuldig ist. „Dezentralisierte Kulturpolitik“. Mit ihr trägt es laut Peichl wesentlich dazu bei, dass Kultur auch außerhalb der großen Zentren gedeiht. Es setzt damit zum Beispiel ein kommunales Theater in Stand, „als Regenerationskraft der Gesellschaft“ zu wirken.
Eine kleine Kostprobe dieser Kraft vermittelte das Theaterteam den zahlreichen geladenen Gästen, die Intendant Tonio Kleinknecht auf der Probebühne im Wi.Z begrüßen konnte, mit einem kurzen Ausschnitt aus der bevorstehenden Uraufführung „Samstag in Europa – Gefährliche Begegnungen“. Zur Regeneration trug ferner die dreiköpfige Band „ÜberMorgen“ bei mit Songs, die man gerne in Erinnerung behält.
In der Summe darf man Oberbürgermeister Thilo Rentschler als oberstem Chef der Mimentruppe Recht geben, der zum „Silbernen“ bei ihr „keinen Schimmer von Patina“ entdecken konnte. Seine Zuversicht, dass das Theater auch unter seiner vierten Intendanz nach Udo Schoen mit Gerburg Maria Müller, Simone Sterr und Katharina Kreuzhage diese „freudvolle und spannende Aufgabe“ mit „gefährlichen Begegnungen“ aller Art weiterführt, teilen alle Fans der kleinsten professionellen Bühne der Republik. Sie wünschen Tonio Kleinknecht und seinem Team, dass ihnen Utopien und Neugier, die er als Voraussetzungen für ihre Arbeit postuliert hatte, nicht ausgehen mögen.
John Wolf