Die Schere

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Nennen wir sie Marita. Sie ist Mitte 40 und arbeitet seit 25 Jahren als Erzieherin in einem kirchlichen Kindergarten. Jetzt hat sie ihr Hausarzt krank geschrieben. Wegen akuter Erschöpfung.

Netto verdient Marita rund 2000 Euro. In der Großstadt, in der sie lebt, geht davon schon mehr als ein Drittel für die Miete drauf. Wundert es da jemand, das potenzielle Erzieherinnen und Erzieher nicht an den Kindergärten und Kitas Schlange stehen?

    Szenenwechsel. In der Wachkoma-Station des Ostalbkreises in Bopfingen ist jetzt ein Bildband über diese Einrichtung vor großem Publikum vorgestellt worden. In einjähriger Arbeit hat der Wasseralfinger Fotograf Harald Habermann Leben und Arbeit in ebenso eindringlichen wie einfühlsamen Bildern eingefangen. Entstanden ist eine Dokumentation der Nächstenliebe und ergreifender Zuwendung. Die Menschen, die sich dort sieben Tage die Woche rund um die Uhr um absolut hilflose Menschen in einem schwer zu fassenden Dämmerzustand kümmern, haben allergrößten Respekt verdient. Den hat ihnen der Pflegedienstleiter des Ostalbklinikums Aalen, Günter Schneider, in dessen Zuständigkeit auch die Aktivpflege unterm Ipf fällt, in einer klugen, berührenden, mutigen Rede erwiesen. Er hat sich nicht gescheut, Auge in Auge mit seinem obersten Dienstherrn, Landrat Klaus Pavel, deutlich auf die beschämend große Schere hinzuweisen, die sich zwischen dem psychisch und physisch extrem belastenden Dienst an diesen Patienten und der Entlohnung der sie Pflegenden öffnet. Wo doch ein Schicksal, das einen in die Wachkoma-Station bringen kann, jede und jeden treffen kann - mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit als ein Blitz aus heiterem Himmel. 

   Es mangelt nicht an warmen Worten für die helfenden Hände und Herzen. Gleichzeitig werden sie, wo möglich, als Kostenfaktor "abgebaut" oder verschoben wie die Kinderkrankenschwestern von Aalen nach Schwäbisch Gmünd. Dabei fehlt qualifiziertes Pflegepersonal an allen Ecken und Enden. Für gar nicht wenige Menschen wäre der pflegende Dienst am Nächsten ein Traumberuf. Wäre da nicht die alptraumhafte Bezahlung. Immerhin bewahrt die öffentliche Hand ihr Personal davor, unterm Mindestlohn zu arbeiten, wie der Pflegedirektor mit Bitterkeit in der Stimme festgestellt hat.

   Höchste Zeit, diesen demütigenden Zustand zu ändern. Vielleicht sollte man ein bisschen Vermögen umschichten. Eine kräftige Erhöhung der in Frage kommenden Steuern – möglichst EU weit - würde die 20 Prozent Deutschen, die genau so viel Geld in der Tasche haben, wie die restlichen 80 Prozent, sicher nicht in den Hungertod oder außer Landes treiben. Wo sich doch auch hier die Schere immer weiter öffnet. Die Schere zwischen arm und reich. Wenn ein Sozialstaat dieses Etikett behalten will, dürfen vorbildhafte Einrichtungen wie die Wachkoma-Station in Bopfingen nicht die Ausnahme bleiben. Der Nächste geht jeden an. Denn jeder könnte der Nächste sein.

Wolfgang Nußbaumer       

 

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