Biographische Wanderung durch das Haus der Geschichte

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Biographische Wanderung durch das Haus der Geschichte

Betreten wir mit Hartmut Vinçon das „Haus der Geschichte“. Und rüsten wir uns für einen Kampf ums Überleben.

   Denn der Untertitel seines Buches lautet „Europäische Verheerungen 1914 - 1941 - 2014“.  In deren Zentrum steht die Ukraine. Doch bevor wir uns in die Geschichte dieses Zentrums begeben, blicken wir in seinem erzählerischen Dreieck mit den Koordinaten „Raum. Zeit. Ich“ weit zurück.

   In den Räumen dieses Hauses erfahren wir viel über die Kindheit des Autors in Ellwangen und über das Schicksal seines Vaters als Soldat im 1. Weltkrieg und als Lehrer und bekennender evangelischer Christ in der Nazizeit. Später brechen wir mit dem emeritierten Professor für Kommunikationswissenschaften und Frank Wedekind-Forscher an der Hochschule Darmstadt in die Ukraine auf. Zunächst auf den Spuren seines Vaters. Hartmut Vinçon schildert die vom Krieg und dem Kampf um Unabhängigkeit geprägte Geschichte dieses europäischen Landes.

   Während die Erinnerungen an die eigene Kindheit sehr detailliert und präzise erzählt werden, verstreut der Autor seine politischen Beobachtungen quer durch die Räume seines Hauses der Geschichte. Sachliche historische Informationen spiegelt er an philosophischen Betrachtungen, deren Sinngehalt sich der Leserin und dem Leser nicht ohne weiteres erschließt. Kein Wunder. Schließlich stellt Vinçon schon auf den ersten Seiten seiner Chronik fest: „Es bedarf außerordentlicher Anstrengungen, den aus Phantasmen gewobenen Schleier der Ideologien, der über der Gegenwart schwebt, zu durchdringen.“ Seine eigene Erfahrung als Chronist beschreibt er so: „Wir sind aufgewühlt vom Schreck oder Glück der Erinnerung.“

   Beginnen wir mit dem Glück. Als der kleine Hartmut „knapp unter vier Jahre alt“ ist, tritt er in einen „zwielichtigen Flur“. Dieser befindet sich in der väterlichen Dienstwohnung in der „Alten Sonne“ in Ellwangen. Vinçon beschreibt die Räume und ihre Bewohner ganz exakt. Ohne Scheu vor intimen Details. Er sieht seine Schwestern und die Mutter nackt. „Sie sah aus wie eine Quellnymphe“, erinnert er sich. „Sie war eine Schönheit“.

   Die Kehrseite des Glücks ist das Unheil. Für seinen Vater ist es der Krieg, zu dem der Junglehrer, 21 Jahre alt, 2015 eingezogen wird. Er wird seinem Sohn später, schwer herzkrank, erzählen, wie er immer wieder heil davongekommen ist. Aber in seinem Kriegstagebuch auch von der Lagerhaft in russischer Kriegsgefangenschaft berichten und wie ihm schließlich die Flucht aus Sibirien gelungen ist.

   Heil davongekommen ist auch die ganze Familie beim Beschuss der Stadt durch die Amerikaner. Allmählich kehrt Normalität ein. Der kleine Hartmut spielt mit seinen Kumpels in den Ruinen zerstörter Häuser. In der Oberamtsgasse und der Oberen Straße gibt es Spielwarenläden. In den Schaufenstern lockt amerikanisches Kriegsspielzeug. Allerdings unerschwinglich.

   Krieg indes ist kein Spiel. Darauf macht der Chronist immer wieder aufmerksam. Im Kontext der Ukraine beschreibt er das Schicksal der dortigen jüdischen Bevölkerung. Über 100.000 Juden seien während des Bürgerkriegs und des polnisch-sowjetischen Kriegs ermordet worden. 434.508 unter der Nazidiktatur im Vernichtungslager Belzec.

   Ob man Vinçons Einschätzung der ukrainischen Entwicklung immer teilen muss, sei dahingestellt. Vor allem wenn er feststellt: „Seit ihrer Gründung 1991 ist die Republik Ukraine Objekt einerseits der globalen militärischen Interessen Russlands und andererseits der politischen und ökonomischen Expansionsstrategien der Europäischen Union und der NATO.“ Zumindest seit der Wahl Selenskyjs im April 2019 orientiert sich das Land klar zum Westen und zur EU.

   Auf seiner Reise in die Westukraine, wo sein Vater einst in Gefangenschaft geraten war, besucht Hartmut Vinçon Lemberg mit der Gedenkstätte „Territory of Terror“ und einem Denkmal für den Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), Bandera, die für die zehntausendfache Ermordung polnischer, jüdischer und russischer Menschen mit verantwortlich gewesen ist. Heute wird der Mann als Nationalheld gefeiert. Zusammen mit einem Tschechen, den er kennengelernt hat, erkundet er noch weitere Städte. Immer im Hinterkopf den Gedanken, welche Gefallenen der Welt- und Bürgerkriege die Erde hier bedeckt. Im Gespräch scheinen noch weitere Kriegsschicksale von Angehörigen auf. Sie lassen den Autor räsonieren: „Wir reisen in dieses schöne Galizien (…), während wieder in dem wieder und wieder geschändeten Grenzland Krieg herrscht, als ob in diesem Blutland erneut eine Drachensaat aufginge.“

    Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis lädt zur weiteren Beschäftigung mit der wechselvollen Geschichte der Kornkammer Europas ein.

    Hartmut Vinçon: Überleben im Haus der Geschichte, 295 S., Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, ISBN 978-3-8260-7894-1

 

Wolfgang Nußbaumer    

(16.08.2023)     

        

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