Weiden – die gepfählte Stadt

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Auch nach 40 Jahren kein bisschen leise: der harte Kern der "Brennende Ohrwaschl" mit Frontmann Kalle Dobler beim Jubiläumskonzert in der "Linda". Auch nach 40 Jahren kein bisschen leise: der harte Kern der "Brennende Ohrwaschl" mit Frontmann Kalle Dobler beim Jubiläumskonzert in der "Linda". Fotos: -uss

Bunte Farben empfangen den Besucher an diesem kalten Novembertag in Weiden. Ein Bild wie Milch und Honig. Eingebettet in eine weite Landschaft, die sich inmitten der Oberpfälzer Alb und des Oberpfälzer Waldes erstreckt. Eine heitere Stadt. Eine heitere Stadt?

    Viele der Häuser stehen auf Pfählen, weil die weite Landschaft mit sumpfigem Untergrund lauert. Das Venedig im Nowhereland. „Neverywen“ würde ein stadtbekannter Künstler ergänzen. Das „wen“ steht für Weiden. Kanäle, auf denen Gondoliere ihre Boote voranschieben und für ihre Passagiere „O sole mio“ schmettern (obwohl der Ohrwurm in Neapel gezeugt worden ist), gibt es keine. Dafür das Flüsschen Waldnaab; nicht mehr als eine Schüssel Wasser, die der Boden aufsaugt wie ein Schwamm. Immerhin bleibt ausreichend reich begraster Wiesengrund, auf dem einst Bauern ihre Rinder und die schwedischen Besatzer, die der Dreißigjährige Krieg angeschwemmt hatte, ihre Pferde grasen lassen konnten. Deren Reiter suchten derweil die Weidener heim. Keine heitere Stadt! Willkommene Station auf dem Raubzug brandschatzender Soldateska, Stadt am Rande.

    „Wenn der Böhmische bloust“, kurz und knackig hat eine blutjunge Punkband vor 40 Jahren den Erwachsenen ihrer stillen Heimatstadt den Marsch geblasen – im frechen Bewusstsein, worauf sich „Marsch“ reimt. „Brennende Ohrwaschl“ haben die aufmüpfigen Burschen für ihren zeitgeistigen Musiktrip zwar nicht kassiert; dass ihnen der eine oder die andere aus der alteingesessenen Bourgeoisie aber gerne welche verpasst hätte, lässt sich denken.  Ja, Weiden liegt am Rande der Welt. Im Dunkeln der Geschichte. Doch seien wir gnädig: lag.

    Bis zu jenen stürmischen Tagen, als die Mauer und mit ihr der „eiserne Vorhang“ fiel, war die Tschechoslowakei ihr direkter Nachbar. In solcher Nachbarschaft errichtet man weder zukunftsträchtige Fabriken noch Wellnesstempel. Wie wäre es stattdessen mit einem Atomkraftwerk? Wackersdorf liegt 30 Kilometer entfernt. Dort haben auch aus Weiden die Gegner des gefährlichen Energieproduzenten demonstriert. „Bei Minus 20 Grad haben wir damals im Wald übernachtet“, erinnert sich einer, der dabei gewesen ist. Vermutlich hat er in der Eiseskälte seinen Geruchssinn verloren.

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Wolfgang Herzer, Künstler und Kulturbeweger, vereinigt alles unter seinem Dach: die Kneipe, ein Museum, jede Menge Kunst - und sich selbst.

 

   Kein Nachteil, wenn einen der Weg auf Weidens Weiden führt. Bauernhöfe, die vorne mit bürgerlicher Fassade glänzen und hinten riechen, sind im Lauf der Jahrhunderte zumeist echten Bürgerhäusern gewichen. Die auf Pfählen stehen. Von Pfahlbauten sollte man dennoch nicht sprechen. Obwohl sie bei dieser Bauweise in ihrem Bestand weniger gefährdet wären. Risse ziehen sich durch die Wände vieler Häuser. Die Pfähle, auf denen sie ruhen, versinken ganz langsam im nachgiebigen Erdreich. Gebäude- und Hausratversicherungen werden die Leiden in Weiden durch ihre Tarife vermutlich noch intensivieren.

   John Steinbeck hat sicher nicht an Weiden gedacht, als er seinen großen Roman „Jenseits von Eden“ geschrieben hat.  „Die Menschen sind verstrickt – mit ihrem Leben und Denken […] in einem Netz von Gut und Böse. […] Tugend und Laster waren Schuss und Kette unseres frühesten Bewusstseins und sie werden das Gewebe unseres letzten bilden, ungeachtet aller Veränderungen […] aller Wandlungen von Wirtschaft und Lebensweise.“ Gleichwohl findet man Beobachtungen seines Familienepos‘ im sowohl katholisch als auch protestantisch geprägten oberpfälzer Mikrokosmos wieder.

    Ob die Risse in den Hauswänden ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen? Flach ist die soziale Hierarchie zwar nicht, das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt mit knapp 54.000 Euro jedoch deutlich über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Insofern darf man mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl von einer „blühenden Landschaft“ sprechen; nur halt auf der falschen Seite der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Also mittlerweile ein heiterer Ort in heiler Landschaft?

    Der Schein trügt. Weiden liegt in einer geologischen Formation, die fleißig Radon ausatmet; ein natürliches radioaktives Edelgas, das im Erdboden beim Zerfall von Uran entsteht. Deshalb sollten die Häuser möglichst dicht sein. Auch die mit den Rissen. Das grenzt zwar nicht an die Quadratur des Kreises, ein Problem bereitet das strahlende Gas dennoch. Echte Töchter und Söhne der Stadt erklären damit ihr strahlendes Aussehen. Skeptiker wiederum vermuten die permanente Beatmung mit Radon als Ursache für mitunter seltsames Gebaren der Bevölkerung.

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Ein rissiger Weiden-Rest aus ganz alter Zeit. Vielleicht haben hier die Schweden einst gehaust.

 

   So konnte man unlängst in der Kneipe („Linda“) des 300 Mitglieder starken Kunstvereins beobachten, dass Menschen, die ganz normal zu einem Konzert hereingekommen waren, von der Musik eines Quartetts aus einem Vor-Sänger, einem Bass- und einem Leadgitarristen sowie einem IT-Spezialisten am Schlagzeug zu wahren Veitstänzen animiert wurden. Und noch fähig waren, in der Bewegungsorgie kryptische Gesänge anzustimmen. „Geht scho besser, geht scho guat“, hört der Gast den – zugegeben – griffigen Refrain.

    In der Tat scheint es allen gut zu gehen. Der Bar-Keeper an der langen Theke hat alle Hände voll zu tun, um mit seinen flüssigen Mitteln das Hochgefühl hoch zu halten. Ja, damals vor 40 Jahren, als die Hormone rockten und das Testosteron locker den Kampf mit der Vernunft für sich entschieden hat, damals wurde das brennende Verlangen nach einer gewissen Steffi von deren Mutter mit einem sehr ernüchternden „Steffi hat Kopfweh“ beschieden.

    Kalle Dobler und Co. haben über diese durchaus mögliche Erfahrung ein Lied gemacht. Vier Jahrzehnte später stimmen nicht nur die Steffis in der „Linda“, sondern auch ein paar Enddreißiger lauthals in den Refrain ein. In den Refrain eines oberpfälzer Punksongs, den sie altersmäßig eigentlich gar nicht kennen können. Eigentlich. Weiden ist voller Rätsel. Wahrscheinlich lässt sich auch dieses Phänomen mit der die Synapsen erweiternden Wirkung des Edelgases erklären. Klingen die Stimmen der 1986 im „Bahnwärterhäusl“ eingespielten Tapes (steht so auf dem Cover der 2019 nochmals aufgelegten Scheibe) noch jugendlich hell und frisch, so haut der sonore Bariton des Mitfünfzigers Kalle (mehr über ihn  auf www.houa.de) in die „Linda“ richtig rein. Was die Punk-Bubis einst rotzig trällerten, erhält eine erwachsene Bedeutung. „Fleisch & Wille“ finden zusammen.

    Verlassen wir die rauschende Party. Draußen trifft man niemanden. Nicht mal einen streunenden Hund oder einen Stubentiger auf Mäusejagd. Nur der Mond wandert mit einem zur Herberge. Ein guter Ort, um einen ereignisreichen Tag auf der straffen Matratze Revue passieren zu lassen. Nahtlos verbünden sich die Bilder des Tages mit dem absurden Kopfkino der Träume. Eine Frau mit wehender Mähne lehnt sich gegen eine zerbröselnde Mauer; ein Polizist sagt zu einem „Geht scho besser“. Filmriss!

    Das Frühstück Sonntagmorgen im Hotel lässt keine Wünsche offen. So wenig wie der Durchblick zur Küche, in der sich zwei gute Geister einen Kaffee gönnen. Freundlich offen ist auch das Gesicht des Wirtes, der sich persönlich um das Wohl seiner Gäste kümmert. In seinen milden Zügen nistet indes ein Hauch von Melancholie. Die Weidener Grundstimmung. Wer so lang in „Neverywen“ lebt - um eine dort entstandene Bildergeschichte über ein Familienleben in „everywen“ zu paraphrasieren - muss melancholisch werden.

Da kommt Stimmung auf

   Jahrzehnte als Grenzländer allein gelassen, den Eisernen Vorhang und böhmische Wälder vor der Nase, heute nur noch Wald – da kommt Stimmung auf. Er lächelt zwar, der farbige Kellner in seinen knielangen Lederhosen - wie einst der Jazztrompeter und Schlagersänger Billy Mo, der sich lieber einen Tirolerhut kaufen wollte - als er im Bräu-Keller das hausgemachte Bier bringt (ein Hochgenuss!); tatsächlich erscheint er als Fleisch gewordene pure Melancholie, gemacht zur Karikatur eines hemdsärmeligen bayerisch-oberpfälzischen servierenden Kraftmeiers.

    Maler und Musiker haben wir bereits in Melancholie und Edelgas vereint. Die Wirkung der Mixtur wird zur Ursache der geschilderten Frohsinns-Eruption in der „Linda“. Letztere übernimmt die Funktion der blühenden Dorflinde, unter der im Volkslied die Burschen den Mädels an die Wäsche gehen. Ein Hort der individuellen Freiheit im Ort, der mehrere Straßen nach ehemaligen Bürgermeistern benannt hat. Bei so viel Ehrerbietung für verblichene Honoratioren muss man ja bei „Linda“ Zuflucht suchen.

   An jenem Sonntagmorgen ist die Kneipe des Kunstvereins bereits wieder blitzeblank, als eine ganz andere Klientel dort ihre Aufwartung macht. Einige Frauen bereiten einen veganen Brunch vor. Wir sind froh, bereits frugal gefrühstückt zu haben. Wohlgenährt und wohlgemut machen wir uns auf den Weg nach Hause auf die Ostalb. Ohne Melancholie. Sie bleibt in Weiden zurück.

     Nachtrag: Und es gibt sie doch, die Verbindungen zwischen dem Oberpfälzer Wald und der rauen Ostalb. Der Textiler Witt Weiden betreibt in Aalen und drum herum einige Filialen. Und jetzt konnte man in der örtlichen Presse einen Aufruf des Landratsamtes lesen, dass die Bürgerinnen und Bürger in ihren Behausungen den Radon-Gehalt der Raumluft messen sollten. Wie? Das ruchlose Edelgas auch hier? Das könnte im Blick auf Weiden so manche seltsame Entwicklung und Entscheidung erklären…   

 

Wolfgang Nußbaumer       

 

     

        

Letzte Änderung amDonnerstag, 28 November 2019 13:48
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