Keine Chance für die Utopie Empfehlung

Statisterie (Huhn), Karl Leven Schroeder (Sprecher:in der Hühner), Felix Jordan (Boxer), Gábor Biedermann (Benjamin), Mina Pecik (Klee), Boris Burgstaller (Sprecher der Schafe), Gabriele Hintermaier (Ratte), Julian Lehr (Napoleon), Hannah Müller (Quieker), Valentin Richter (Schneeball). Statisterie (Huhn), Karl Leven Schroeder (Sprecher:in der Hühner), Felix Jordan (Boxer), Gábor Biedermann (Benjamin), Mina Pecik (Klee), Boris Burgstaller (Sprecher der Schafe), Gabriele Hintermaier (Ratte), Julian Lehr (Napoleon), Hannah Müller (Quieker), Valentin Richter (Schneeball). Foto: Katrin Ribbe

Ein tierisches Vergnügen, um nicht zu sagen eine Riesenschweinerei, hat Oliver Frljić mit seiner Inszenierung von George Orwells „Farm der Tiere“ dem Publikum am Schauspiel Stuttgart beschert.

   Dem Ensemble macht es sichtlich Spaß, mal so richtig die Sau rauszulassen. Der Spaß selbst treibt indes mit Entsetzen Spott. Denn das Geschehen bewegt sich zwischen Slapstick und Horror. Als Zweibeiner darf man froh sein, nicht auf der Bühne zu sitzen.

   Zwischen Gut und Böse gibt es im Reich der Tiere ein klares Unterscheidungsmerkmal: „Vier Beine sind gut, zwei Beine sind schlecht“. Was den Bauern Jones, der seine Tiere ausgebeutet hat, das Leben kostet. Der Obereber Napoleon lässt den Erstochenen über einer Wanne ausbluten in exakter Umkehrung des üblichen Verfahrens. Das ist nicht lustig.

   Dabei hatte alles so witzig begonnen. Zum Vergnügen des Publikums im ausverkauften Haus will der alte Eber Old Major eine Kiste aussaugen. Doch immer, wenn er loslegen will, geht das Gerät aus und das Licht im Zuschauerraum an. Irgendwann funktioniert es doch; das Schwein kann sich in die Kiste legen, sein Manifest für die Nachwelt verkünden und entschlafen.

   Der Regisseur spielt durchgängig mit diesem Gegensatz zwischen harmlos und hinterhältig, zwischen naivem Vertrauen und erbarmungslosem Machtkalkül. Diese Doppelbödigkeit hält die bittere Satire in Schwung. Hinzu kommen die aufwendigen Kostüme, in die Pia Maria Mackert die Mimen gekleidet hat. Richtig hässlich speckig sind die Schweine. Überlegt man sich, dass Mensch und Hausschwein physiologisch nahe Verwandte sind, machen einen die optischen Einfälle erst recht nachdenklich. Spätestens wenn der Obereber Napoleon (Julian Lehr) geschniegelt und gebügelt im roten Sakko die Bühne betritt, verschwimmt die Grenze zwischen Schwein und Mensch. Wem jetzt der Name Putin einfällt, dürfte richtig liegen. Andererseits vermeidet der Regisseur in seiner Bearbeitung alle politischen Zuweisungen. Das Tierwohl-Label vergibt er allerdings auch nicht.

   Wie es ihre Art ist, reagieren die Vierbeiner kreatürlich - bis auf die intelligenten Schweine. Sie suchen ihren Platz an der Sonne, wollen ihren Hunger stillen, Eier legen und Küken ausbrüten, wie die Sprecherin der Hühner (Karl Leven Schroeder) wissen lässt, gemolken werden, worauf die Sprecherin der Kühe (Gabriele Hintermaier) wert legt, und ihre Wolle loswerden (als Sprecher der Schafe Boris Burgstaller).

   Unter einer Bedingung, wie sie von Napoleons klugem Gegenspieler „Schneeball“ (Valentin Richter) in seiner „Unabhängigkeitserklärung der Tiere“ formuliert wird. „Alle Tiere sind gleich.“ So die Grundvoraussetzung. „Wenn aber eine lange Reihe von Missbräuchen und Usurpationen stattfinden, die ausnahmslos dasselbe Ziel verfolgen und die Absicht erkennen lassen, euch Tiere unter absoluten Despotismus zu bringen, ist es euer Recht, ist es unsere Pflicht, eine solche Regierung abzusetzen und neue Wächter für ihre künftige Sicherheit zu schaffen.“ Das impliziert den Tyrannenmord.

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Gábor Biedermann (Benjamin), Mina Pecik (Klee), Karl Leven Schroeder (Sprecher:in der Hühner), Hannah Müller (Quieker), Felix Jordan (Boxer) vor der Freiheitsstatue.

 

   Doch bis es soweit kommt, wird die Leidensfähigkeit der Tiere heftig strapaziert. Der alte Esel Benjamin (Gábor Biedermann) riecht zwar den Braten als Erster. Doch gegen die Hundemeute, die Napoleon loslässt, ist kein Kraut gewachsen. Und gegen dessen rechte Hand „Quieker“, die Hannah Müller mit Bravour als um keine rhetorische Finte verlegene Supersau zeichnet, erst recht nicht. Fährt die Schweinebande nebst tierischen Fahrgästen im Mercedes auf die Bühne, sieht jeder, dass unter Napoleons Herrschaft der Kapitalismus gesiegt hat. Unterstrichen durch die Tatsache, dass der bis zur Erschöpfung treu ergebene Hengst Boxer (Felix Jordan) die Karosse zieht.

   Zuvor noch hat die Regie mit einer starken Revolutionschoreografie gepunktet. Das geht unter die Haut, wie das Ensemble, angeführt von den Schweinen mit ihren langen Beinen, unter blutrotem Himmel an die Rampe marschiert. Wo plötzlich im warmhellen Scheinwerferlicht alles wieder in Butter zu sein scheint. Als Wahrzeichen gerechter Herrschaft wird eine grüne Fahne entrollt. Später wird nach einer Idee von Schneeball eine Windmühle errichtet, die den Tieren das Leben erleichtern soll.

   Napoleon kassiert diese Idee und lässt sein „Volk" eine grüne Freiheitsstatue aufrichten, die pure Ironie. Die Ratte, der ihre vier Beine auch nichts nützen, hängt er am eigenen Schwanz auf.  Er fraternisiert mit den Menschen, rollt dem Farmer Mr. Whymper den roten Teppich aus - und verrät damit endgültig die im Manifest definierten Rechte. Woraufhin ihn die Tiere umbringen, aus einer geschlachteten Sau allerlei Würste herausholen und an der Fackel der Freiheitstatue grillen.

   Diese deftige Form der finalen Revolution gegen ihren schweinischen Peiniger wird indes durch das Schlussbild konterkariert. Im Dunkel des Bühnenhintergrunds löscht eine Gestalt mit Menschenhaupt die Lichter eines Kandelabers aus. Eins nach dem andern. Bis es Nacht ist. Keine Chance für die Utopie. Das Publikum dankt mit hoch verdientem rhythmischem Klatschen.

   Info: Nächste Aufführungen am Samstag, 11., 15 Uhr, und Sonntag, 19. Mai, 19.30 Uhr; www.schauspiel-stuttgart.de  

 

Wolfgang Nußbaumer

(30.04.2024)  

     

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