Peymanns "Lear"

König Lear (Martin Schwab) und sein Narr (Lea Ruckpaul) stehen im Regen. König Lear (Martin Schwab) und sein Narr (Lea Ruckpaul) stehen im Regen. Fotos: Thomas Aurin

Dem vom aufbrandenden Beifall des ausverkauften Hauses übertönten schallenden „Buhs“ zum Trotz:

Das Resümee, das der geblendete Graf Gloster zieht als Motto über die Inszenierung des Ex-Bühnenherrschers Claus Peymann am Schauspiel Stuttgart zu stellen, wäre des Missfallens doch zu viel: „Das ist der Fluch der Zeit, dass Tolle Blinde führen.“ So aktuell diese Erkenntnis angesichts der Weltläufe auch sein mag.

     Peymann wäre nicht Peymann, wenn er diese ebenso düstere wie lange Tragödie nicht bis in ihre letzten Verästelungen hätte ausspielen lassen. Deshalb gerät die Inszenierung der Macht, die in Ohnmacht umschlägt, in eine gefühlte Endlosschleife. Die drei Glastüren in der von leuchtend weißen Leisten betonten abschüssigen Black Box, die Karl-Ernst Herrmann als gnadenlos klare Spielstätte entworfen hat, klacken bei den dauernden Zu- und Abgängen wie in einer schlechten Komödie im Akkord. Viel wird gerannt und geschrien – zwar im Sinne des Autors mit Sinn doch ohne Verstand. Der Wahrheitsfindung dient das nicht immer. Obwohl – die letzte Wahrheit des „Lear“ ruht im Nihilismus, im Nichts der reinsten Individualität, die sich in ihrer Maßlosigkeit selbst als Maß setzt. Darüber kann auch der versöhnliche Schluss nicht hinwegtäuschen. Glosters Sohn Edgar soll Britannien in eine versöhnliche Zukunft führen. Viel Glück.

     Zuvor jedoch packt Shakespeare alles aus, was an menschlicher Niedertracht und Verblendung möglich ist. Es beginnt mit den Liebesbeweisen, die der Narziss Lear in der Verblendung seiner eigenen Machtfülle seinen Töchtern Goneril, Regan und Cordelia abverlangt und führt über den ultimativen Generationenkonflikt mit Erbstreit und Abschiebung ins Heim (in diesem Fall in die vom Sturm gepeitschte Wüstenei) in die Enttäuschung. Die Täuschung hat ein Ende in der Erkenntnis. Der Schein kapituliert vor dem Sein – ein Pyrrhussieg, wie wir wissen.

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Der wahnsinnige Lear (Martin Schwab) zeigt dem geblendeten Gloster (Elmar Roloff) die Welt.

 

    In der Verblendung liegt ein weiterer Doppelsinn. Gloster, der seinen Sohn Edgar verstößt, weil er willfährig einer denunzierenden Täuschung seines Bastards Edmund auf den Leim geht, werden von Cornwall, Regans Gatten, grausam die Augen ausgedrückt. Erst durch diese Tat wird er sehend.

    Beider Weg dorthin ist steinig. Lears freiwilliger Rückzug aufs Altenteil macht ihn zum unfreiwilligen Spielball seiner gnadenlos berechnenden älteren Töchter. Seinen Liebling, Cordelia, die wahrlich einzig moralisch integre Person des Stücks, hatte er verstoßen, weil sie ihm in Erwartung des verbalen Liebesbeweises keinen Honig ums herrschaftliche Großmaul schmierte. Er wird sie erst als Tote wieder an sein brechendes Herz schließen können.

     Graf Gloster tappt als treuer Diener seines Herrn dem abgefeimten unehelichen Sohn Edmund in die Falle. Geblendet wird ihn sein verstoßener Sohn Edgar, der sich in erbarmungswürdig magerer Gestalt von Lukas T. Sperber als Tom der Bettler vor den Häschern getarnt hat, nach Dover führen. Dort will er sich von der Klippe stürzen, was Edgar liebend-listig zu verhindern weiß.

     Trost und Unterhaltung in der Langeweile seines Rentnerdaseins verspricht sich Lear von einem kleinen Narren. Doch dieser hält ihm den Spiegel der ungeschönten Wahrheit vor. Ihre Begegnung wird zu einem Kabinettstück hinreißender Darstellungskunst, die allein schon den Besuch dieses sperrigen Dramas lohnt. Hier der große alte Mann Martin Schwab, dort die großartige kleine Frau Lea Ruckpaul. Wie sie ihm im Puck-Format die Leviten liest, ihm die Wahrheit Rad schlagend fern jeder kobolzenden Attitude mit ihrer makellosen Diktion unter die hohe Nase reibt – und er, sie milde staunend gewähren lassend, jede Faser ein Souverän. In sich ruhend selbst in größter, vom Sturm umtoster Verzweiflung, während das Närrchen auf seinem Stühlchen vor dem prasselnden Regen unter seinem weißen Sakko Schutz sucht.

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Aufbruch zu neuen Ufern: Edgar (Lukas T. Sperber) und Albany (Michael Stiller) trauern um König Lear (Martin Schwab) und seine Tochter Cordelia (Lea Ruckpaul).

 

     Manja Kuhl und Caroline Junghans geben in mondäner Garderobe die Töchter Goneril und Regan als außengesteuerte, auf Macht und Sex geile Monster; Michael Stiller als Albany und Andreas Leupold als Cornwall bleiben blass, während Peter René Lüdickes Graf von Kent als aufrechter Mann ganz Haltung ist, in seiner Verkleidung als poltriger Diener jedoch übertreibt. Neben Martin Schwab, Lea Ruckpaul und Elmar Roloff hinterlässt Jannik Mühlenweg als Bastard Edmund in seiner geschmeidigen, fiebrigen Skrupellosigkeit den stärksten Eindruck. „Nichts“ antwortet Töchterchen Cordelia in ihrem Unschuldskleidchen auf des Vaters Frage, was sie ihm denn an Liebesworten zu sagen habe. Das war schon zu viel. „König Lear“ – kleine Ursache, große Wirkungen. Das Leben eben.

Info: Der Name Claus Peymann zieht in Stuttgart auch noch nach fast 40 Jahren. Deshalb sind sämtliche Vorstellungen bis in den April hinein ausverkauft. 1979 hatte der furchtbare Marinerichter und Ministerpräsident Hans Filbinger (ohne Lear-Format!)  den streitbaren Theaterdirektor aus dem Amt gedrängt. -  Vielleicht hat man mit einem Anruf bei der Theaterkasse (0711)202090 Glück.

Wolfgang Nußbaumer       

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