Visionär gedacht

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Aus dem Jiddischen hat Sophie Lichtenstein Kulbaks „kleinen Roman“, der zur Zeit der russischen Oktoberrevolution spielt, ins Deutsche übertragen.
   Sprachlich empfindet sie die Begrenztheit der Welt in einem kleinen galizischen Ort in den Verkleinerungsformen nach. Reduplikationen, Wiederholungen von ganzen Satzteilen, sowie die Nachstellung des Attributs führen zu einem eigenartig gebremsten Rhythmus, der eine in sich abgeschlossene scheinbar putzige Welt widerspiegelt. Die Sprache, obwohl schlicht, entbehrt nicht einer gewissen Poesie.
   Die Geschichte des Hebräischlehrers Mordkhe Markus bewegt sich in der Zerrissenheit der iiddischen Welt auf der Suche nach Antworten auf die großen Menschheitsfragen und den widersprüchlichen Idealen der sozialistischen Gesellschaft. Kann sich die jiddische Ghettogesellschaft gleichberechtigt in die revolutionäre Bewegung einbringen? Mordkhe Markus’ Wurzeln liegen im Talmud, sind also dem traditionellen Judentum verhaftet. Gleichwohl befasst er sich eingehend mit der Philosophie Schopenhauers, Nietzsches und Bergsons.
   In einer dem Leser fremden Welt lebt diese eigentümliche Gesellschaft, die nicht nur fremd, fast schon befremdlich ist. Vom Krieg verwahrloste Gestalten, als böse Schatten ihrer selbst, schwanken durch die Gassen und richten mit ihren Aggressionen nichts als Unheil an. Kauzige seltsame Gestalten zwischen Wachen und Schlafen säumen den Weg.
   Der stille Gelehrte sitzt vergessen in seiner Dachkammer. Das Leben besteht für ihn fast nur aus Gedanken. In Fräulein Gnesye hat er eine geduldige Zuhörerin, die ihn anhimmelt. Existentielle Fragen, Erleuchtung durch Askese, Glück im Entdecken des Nihilismus, seltsam verlangsamte Bewegung, die fast zur Starre gefriert, bilden seine Weltsuche ab. Das Erkennen nimmt Bildformen wie bei Chagall an. Die Ideen von Freiheit und Gleichheit wollen sich nicht in Einklang bringen lassen mit der revolutionären Idee. 
   Sein Vater wünscht ein bürgerlich ehrbares Leben für den Sohn. Heiraten soll er, nicht so ein Lasterleben führen. Bei Fräulein Gnesye verfangen die väterlich wohlmeinenden Predigerworte. Den Sohn erreicht er nicht. Geradezu geschlechtslos setzt er seine Denkerexistenz fort, unterbrochen von messiashaftem Anführtertum der „Armenleute“.  Doch Erlösertum passt nicht in die neue Welt des Sozialismus. Mordkhe Markus gerät mit seiner unzeitgemäßen Sympathie für die Armen und Entrechteten in die Fänge der neuen Herrschenden, die ihn als Agent und Provokateur verdächtigen.
   Die überschaubar kleine Welt des Freundeskreises um den Doktor, väterlicher Freund  von Mordkhe Markus, starrt gebannt auf das kommende unvermeidliche Verhängnis, das sie verschlingen wird. Der Gelehrte Mordkhe Markus erfährt im Sterben visionär sein deistisches Glaubensbekenntnis. Wie unter einem tröstlich verhüllenden Schleier verbirgt sich die kleine Erzählwelt vor den großen Umbrüchen.
   Kulbak hat in seinem kleinen Roman vieles vorweggenommen, was die kommenden Jahrzehnte an Säuberungen, Denunziationen, Eliminierung Andersdenkender und diktatorischen Vorschriften für Kultur und kreatives Schaffen gebracht haben.
   Der Titel des Romans „Montag“ hat seine Bedeutung sowohl im jüdischen als auch im sowjetischen Kulturraum. Der erste Tag der Woche, an dem wieder malocht wird, auch wenn es nach dem Ruhetag am Sabbath bzw. am Sonntag besonders schwerfällt. 
 
Moshe Kulbak, Montag. Ein kleiner Roman. Warschau 1926, Berlin 2017
 
Helga Widmaier
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