Der Würgeengel

In Viktor Bodós Inszenierung am Stuttgarter Schauspielhaus ist der Fall von Anfang an klar. Luis Buñuels „Würgeengel“ heißt bei ihm Corona.

   Er hält die feine Gesellschaft in Isolation, schottet sie ab gegen die Außenwelt. Das kann nur eine Zeitlang gut gehen. Dann lassen die atavistischen Grundmuster ihre Träger von der Leine; das gesittete Treffen läuft aus dem Ruder.

   Was die zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler mit großem Mut zur Hässlichkeit und Selbstentblößung vorzeigen, hat ohne Zweifel hohen Unterhaltungswert. Wie sie in hohlen Phrasen aneinander vorbei und aufeinander einreden, ihre Egotrips zelebrieren und ihre Animositäten zur Schau stellen, taugt zu großem Amüsement. Nur Beklemmung will sich bei Betrachtung der im Wortsinne ausweglosen Situation nicht einstellen. Die Teilnehmer des Treffens kommen sich Corona bedingt real ebenso wenig nahe, wie diese Filmadaption einem Teil des Publikums.

   Die Frage, die jede und jeder für sich selbst beantworten muss, lautet: Surft der ungarische Regisseur mit handwerklicher Bravour auf der Welle der Oberfläche des theatralen Stoffs; oder findet er eine griffige und dennoch tragende Metapher für die Zustände, in die von der Außenwelt abgeschlossene Menschen geraten können mit allen schlimmen Folgen für eine Gesellschaft.

   Da trudeln sie also nacheinander durch die Schleuse ein, die ihre Identität scannt. Die Coole, der Macher, die Schusselige, der Selbstherrliche, der Selbstzweifler, die Gelangweilte und so fort. Zuvor hat die Angestellte Gloria Riger die Tafel für die Runde in Schuss gebracht, die Mikros natürlich mit einem Sprühstoß aus der Desinfektionsflasche versehen. Cecilia Rongen gibt dieser Gestalt zunehmend panische Züge. Kein Wunder bei dieser Gesellschaft.

   Am großen runden Tisch unter einer großen Projektionsfläche reden sie in unterschiedlichen Sprachen. Die beiden Übersetzer in ihrer Kabine sitzen auf verlorenem Posten. Blickt man auf die wie ein blonder Helm fest sitzende Haartracht der Gastgeberin, drängt sich die Assoziation mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, förmlich auf.

   Der spanische Filmemacher hält sich selbst für einen „Feind jeder Art von Gesellschaft“.  Jeder Mensch erscheint ihm zwar „des Interesses würdig“; aber nur als Einzelner. Warum? „Wenn mehrere zusammenkommen, wird ihre Aggressivität frei und verwandelt sich in Angriff oder Flucht, übt Gewalt aus oder erleidet sie.“ Diese Beobachtung reflektiert der Regisseur in mitunter vogelwilder Szenerie.

   Deutet man das von Lili Izsák geschaffene Bühnenarrangement als EU-Ministerrat, wird einem unwohl. Die Runde lässt dem Unheil seinen Lauf, läuft sogar mit, statt zu versuchen, ihm Einhalt zu gebieten. Insofern stellt Bodó einen von realer Angst bestimmten Mikrokosmos der pandemischen Gesellschaft vor. Mit dem alerten Politiker Edmund Nobile (Michael Stiller), seiner gestylten Gattin Lucia (Sylvana Krappatsch), ihrer Affäre Christian Gomez (Peer Oscar Musinowski), der Sängerin Silvia Carell (Christiane Rossbach), die zugleich die Partnerin des Dirigenten und Pianisten Roland Spitzweg (Klaus von Heydenaber) ist, dem Studenten Benedikt Löwenfels (Valentin Richter), seiner Freundin Beatrice Heidelbach (Amina Merai), dem Arzt Dr. Victor Condé (Reinhard Mahlberg), der eingebildeten Kranken Leonora von Wisslowsky (Anne-Marie Lux), der reichen Erbin Johanna Avila (Therese Dörr) und ihrem jüngeren Bruder Frank (Gábor Biedermann). Mit der Angestellten Gloria sind dann alle Gesellschaftsschichten in diesem Raum ohne Ausgang versammelt.

   So kommt es, wie es kommen muss. „Wir sind doch nicht alle hier verrückt, oder?“, versucht der Politiker die sich streitende Tischgesellschaft zur Ordnung zu rufen. Keine Chance. Der nackte Wahnsinn hat bereits unheilbar Einzug gehalten. Alles gerät aus dem Leim und Lot. Weil das so schön ist, hält sich der Regisseur an Buñuels Wiederholungsmantra. Unter dem hämischen Gelächter der feinen Leute muss die Angestellte mehrmals mit einem Tablett voller Teller straucheln.

   Essen gibt es übrigens keines. Nur im eingeblendeten Video geschieht das große Fressen. Real bleibt nichts. Außer Gewalt, Sex und Entblößung als Ultima ratio. Der Trieb siegt über den Verstand. Schafft indes keine Befriedigung. Am Ende sind sie alle ein großer Haufen Elend. Am augenfälligsten in der derangierten Gestalt von Sylvana Krappatsch zur angstvollen Fratze des Elends geronnen. Nach Musinowskis bravouröser viriler Breakdanceeinlage und dem Catwalk des Ensembles auf dem runden Tisch implodiert die aufrechte Haltung. Ab durch den Hinterausgang, der sich neben der Übersetzerkabine öffnet. Glück gehabt?

 

Wolfgang Nußbaumer

Nach oben

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.