Suche nach den Wurzeln

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Suche nach den Wurzeln
 
Der Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel spürt in dem Roman den Wurzeln seiner Familiengeschichte nach.
   Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte angesiedelt, die den Leser in ihren Bann zieht. Die Schauplätze sind Berlin, Madrid, Paris, Südfrankreich und zuletzt Buenos Aires. 
 
   Den Autor treibt das viele Ungesagte in seiner Familie um. Er bemüht sich, von seiner Mutter, die allmählich vergesslicher wird, noch einige Geschichten von früher zu hören. Der Leser nimmt teil an dem schwierigen Dialog des Ich-Erzählers mit der Mutter. Sie will sich an manches nicht erinnern, blockt ab mit sprachlichen Gemeinplätzen, verfällt in Schweigen. Der Sohn lädt sie ein, mit ihm zusammen, Orte ihrer Kindheit und Jugend aufzusuchen. Gemeinsam tauchen Erinnerungsfetzen zu den verschiedenen Schauplätzen auf. 
 
   Die Leerstellen schmückt Berkel phantasievoll aus. Er erzählt mitreißend seine Fiktion um das Aufwachsen des Jungen Otto in Berliner Hinterhöfen. Zille sein Milljö wird greifbar. Hunger, ein gewalttätiger Taugenichts von Stiefvater, eine liebevolle energische Mutter im Berliner Arbeitermilieu zwischen den Weltkriegen, allesamt keine guten Voraussetzungen für den kleinwüchsigen schwächlichen Otto. Mit übermenschlicher Anstrengung trainiert er sich Kraft an und gewinnt den Respekt seiner Umgebung. Gemeinsam mit der Mutter sorgt er für den Lebensunterhalt der Familie. 
 
   Der andere Erzählstrang beginnt mit dem 13jährigen Mädchen Sala, aus gutem Hause, aber von der Mutter, einer polnischen Jüdin verlassen. Der Vater ist schwul. Sein Lebensentwurf verhindert eine bildungsbürgerliche Karriere. Der Vater liebt und respektiert seine Tochter und diese ihn. 
 
   Unter denkbar ungünstigen Umständen beginnt die Liebesgeschichte zwischen Otto und Sala. Gemeinsam erobern sie Berliner Parks, Gewässer und Museen. Bis es gefährlich wird für die gemischtrassige Liebe. Sala geht widerwillig zur Mutter und deren Lebensgefährten nach Madrid. Sala versteht sich überhaupt nicht mit der Mutter, einer aktiven Anarchistin im Kampf gegen Francos Spanien. Bei der Schwester der Mutter in Paris verbringt sie ein paar friedliche Jahre, sie schreibt sich an der Sorbonne für Spanisch und Französisch ein. Dann kommen die deutschen Soldaten nach Paris. Sala wird zur unerwünschten Ausländerin und ist überdies als Halbjüdin besonders gefährdet. Sie muss nach Südfrankreich fliehen, gerät in das Internierungslager Gurs. Es gelingt ihr, aus dem Deportationszug nach Leipzig ihren Häschern und dem drohenden KZ zu entkommen. 
 
   All die Jahre hofft sie, am Ende des Krieges mit Otto eine kleine Familie zu gründen. Otto ist Arzt geworden und nimmt als Sanitäter am Russlandfeldzug teil, gerät mehrere Jahre in Gefangenschaft. Sala emigriert nach Kriegsende nach Buenos Aires, wo sie zunächst die jüngste Schwester ihrer Mutter als Anlaufstelle hat. Sie findet bald Arbeit als Erzieherin in einer reichen Familie und schlägt sich durch. Sie träumt davon, dass Otto zu ihr kommt und sie endlich ein kleines eigenes Zuhause haben werden. 
 
   Hat die Liebe die schwierigen Kriegsjahre überdauert? Wenige Lebenszeichen erreichen sie in langen Abständen. Schließlich fährt Sala wieder zurück nach Berlin und trifft Otto. 
 
   Berkel ist ein Familienepos über die Wirrnisse des 20. Jahrhunderts geglückt, das mit seiner Geschichte fesselt und daneben ein großartiges Dokument der Zeitgeschichte darstellt.
 
Christian Berkel, Der Apfelbaum. Berlin, Ullstein 2019, 411 Seiten Taschenbuch 11 €
 
Helga Widmaier 
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